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Curt
Schamgefühle der Patienten - (k)ein Gesprächsthema für Physiotherapeuten?
Hallo,
ich bin - aufgrund verschiedener Indikationen - in den letzten
10 Jahren relativ oft bei Physiotherapeuten gewesen, insgesamt
hatte ich in dieser Zeit bestimmt um die 100 Behandlungstermine,
meistens Massagen, und da ich beruflich im Aussendienst tätig bin,
war ich bei vielen verschiedenen Therapeuten - meist in Deutschland,
aber gelegentlich auch im angrenzenden Ausland (als privat Versicherter
war das recht unproblematisch).
Was den Umgang mit "Intimzonen" des Körpers angeht, habe ich
dabei sehr unterschiedliche Typen kennengelernt: Es gab extrem
"schüchterne" Behandler/innen, die tunlichst jeden Körperkontakt in
weitem Umkreis um angenommene "Tabuzonen" vermieden - und die
begannen bei denen im Zweifel schon 5cm über dem Bauchnabel und
im oberen Drittel des Oberschenkels, am anderen Ende der Skala habe
ich auch völlig ungehemmte Behandler/innen kennengelernt, die ganz
selbstverständlich männliche Fortpflanzungsorgane beiseite legten, wenn
diese gerade dem Zugang z.B. zu den Ansätzen der Beinmuskulatur
im Wege waren.
Eines aber habe ich niemals erlebt, und das ist der Anlass, weshalb ich
hier schreibe: Nie kam auch nur einer der Behandler auf die Idee, einfach
mal zu fragen, ob es Stellen gibt, an denen man lieber nicht angefasst
werden möchte...
Daher fragte ich mich: Wird das im Rahmen der Ausbildung von
Physiotherapeuten eigentlich irgendwann thematisiert?
Als ich mal in Foren wie diesem kurz recherchierte, stellte
ich fest, dass die einzigen Fragen zum Thema "Schamgefühl",
die dort in diesem Zusammenhang diskutiert wurden, von
Physiotherapeuten in spe kamen, die die Vorstellung ganz furchtbar
fanden, sich im Rahmen ihrer praktischen Ausbildung irgendwann
mal ausziehen zu sollen... also ich muss schon sagen, wer solche
Probleme hat, sollte sich meiner Meinung nach bessser einen anderen
Job suchen - aber vielleicht unterschätze ich da arg,
wieviele Leute auch dieser Profession entsprechende Hemmungen
haben.
Nun bin ich selbst weder aus kulturellen noch aus religiösen
Gründen irgendwie gehemmt, daher könnte ich mich einfach
auf den Standpunkt stellen "lass Dich überraschen" -
aber gerade wenn ich z.B. im Ausland (FR, NL, UK, IT, Bayern..)
zu einem Behandlungstermin ging, wollte ich ja schon
vermeiden, aufgrund mangelnder Kenntnis der ortsüblichen
Verhaltensweisen als "perverser" oder "verklemmter" aufgefasst
zu werden, und da fiel mir schon anhand der einfachen Frage,
ob man sich zu einer Massage mit oder ohne Hose niederlegt,
auf, wie problematisch es ist, das Thema als Patient
anzusprechen: Fragt man etwa höflich "Soll ich die Hose
ausziehen?", dann bekommt man praktisch immer die ebenso
höfliche wie informationsarme Antwort "Sie _können_ sie
anbehalten." - weil allein die Frage offenbar die Vermutung
aufkommen lässt, man schäme sich - und schon steht man vor
dem Dilemma: Ziehe ich die Hose aus, bekomme ich ggf. doch
noch den perversen-Stempel, behalte ich sie an, dann habe
ich nachher möglicherweise einen ölverschmierten Lappen
um die Lende, und der Masseur denkt sich "geschieht dem
verklemmten Typen recht!".
Nach all den Jahren und vielen Behandlungen bin ich also
noch keinen Deut weniger im Zweifel, was angemessen/erwartet/
unerwünscht ist als beim ersten mal.
Ich gehe davon aus, dass sich solche und schwerwiegendere Dilemma
ganz einfach vermeiden liessen, wenn der Therapeut das
Thema ggf. einfach selbst anspräche - falls ihm das verbal
seinerseits zu unangenehm ist, dann täte es ja einfach ein
gut sichtbares Schild an der Wand - mit einer Aufschrift wie
"Sehr geehrte(r) Patient(in), einige unserer Behandlungen betreffen
Körperpartien, die selten einkleidet werden - bitte
weisen Sie uns auf Stellen hin, an denen sie keinesfalls
berührt werden möchten und behalten Sie entsprechende
Kleidungsstücke ggf. an."
Was meint Ihr dazu? - Insbesondere würde mich natürlich
die Meinung von Physiotherapeuten, in Ausbildung befindlichen
oder - noch besser - deren Ausbildern interessieren...
Gruß,
Curt
-
APM
Hallo Curt,
für ein gelungenes Patienten-Therapeuten-Verhältnis bedarf es eines kompetenten Therapeuten UND eines ehrlichen Patienten.
Ich kann deine Unsicherheit verstehen, aber dein Problem ist, wie du selbst schreibst, nicht DEINE SCHAMGRENZE, sondern DEINE BEFÜRCHTUNG von den Therapeuten FALSCH „beurteilt“ zu werden, nämlich als entweder pervers (weil zu niedrige Schamgrenze), oder verklemmt (weil zu hohe Schamgrenze) eingestuft zu werden. Damit machst du etwas zu deinem Problem, was eigentlich die Angelegenheit des Therapeuten ist, nämlich zu entscheiden wie er dich findet. Diese Entscheidung wirst du dem Therapeuten nicht abnehmen können.
Es ist zwar im Umgang untereinander so, dass wir unseren Mitmenschen prinzipiell gefallen wollen, es aber, egal wie wir uns verhalten, den meisten Mitmenschen nicht recht machen können. Weil die Beurteilung unseres Verhaltens beim Gegenüber liegt, werden wir immer die Unsicherheit mit uns herumtragen „verhalte ich mich so, dass der andere mich in Ordnung findet?“. Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: sich authentisch zu verhalten und damit eine ehrliche und offene Interaktion zu ermöglichen.
Es gibt keinen festgeschriebenen Verhaltenskodex bezüglich der Schamgrenze. Weder für Patienten, noch für Therapeuten.
Jeder Mensch hat ein anderes, ihm eigenes Schamgefühl, das u.a. auch kulturell geprägt ist. Auch Therapeuten kann man ein unterschiedliches/persönliches Schamgefühl nicht verwehren. Unsere „berufliche Schamgrenze“ ist aber mit Sicherheit per se schon mal erheblich niedriger als z.B. bei einem Kellner. Ein Körpertherapeut, der keine nackigen Beine sehen kann, hätte eindeutig den Beruf verfehlt. Der Kellner wäre aber verständlicherweise irritiert, einen in Unterwäsche am Tisch sitzenden Gast vorzufinden. Der Kellner würde diesen Gast wohl zurecht als unangemessen und unerwünscht „enthemmt“ empfinden.
Wir Therapeuten dagegen sind es gewohnt mit entkleideten Patienten zu arbeiten. Seine persönlichen Schamgrenzen zieht jeder Therapeut woanders. Ebenso jeder Patient, was im Umgang miteinander akzeptiert werden sollte.
Die Frage, in wieweit das evtl. unterschiedliche Schamgefühl verbalisiert werden sollte, ist einfach zu beantworten: so offen und unkompliziert wie möglich. Patienten und Therapeuten sind nicht hellsichtig und MÜSSEN sich deshalb mit Worten verständigen.
Beispiele zum Thema Hose-Ausziehen: Der Patient fragt „soll ich die Jeans ausziehen?“.
a) Möchte der Patient seine Hose lieber nicht ausziehen, sollte er diese Frage gar nicht erst stellen.
b) Wenn der Therapeut die Beine behandeln will/soll, gibt es sinngemäß nur eine mögliche Antwort: „ja bitte, die Hose wäre bei der Behandlung hinderlich“.
c) Sollte der Therapeut keine entkleideten Beine benötigen, gibt es sinngemäß auch nur eine mögliche Antwort „von mir aus können sie die Hose anbehalten, aber wenn sie sie lieber ausziehen möchten steht ihnen dies frei“.
d) Wenn der Patient von sich aus Kleidungsstücke anbehält, die bei der Behandlung im Wege wären, sollte der Therapeut fragen „würde es sie stören die Jeans/den BH auszuziehen?“
Ebenso selbstverständlich sollte vor einer Nackenmassage die Frage des Therapeuten lauten „darf die Frisur Schaden nehmen?“, und vor dem Griff in die Leiste „ist es für sie in Ordnung, wenn ich die Unterhose etwas zur Seite ziehe?“. Dann wäre dem Patienten die Möglichkeit gegeben zu sagen „nein, diese Stellen bitte nicht mitbehandeln“.
Möchte ein Patient eine eindeutig nicht anzügliche Stelle wie z.B. die Pomuskulatur massiert bekommen, kann er fragen „können sie bitte auch den Po mitmassieren?“.
Wie gesagt, wir müssen miteinander sprechen, denn wir sind nicht hellsichtig.
Ein fähiger Therapeut kennt seine eigenen Grenzen, versucht die Grenzen des Patienten zu erkennen und zu erfragen bevor er sich auf ihn „stürzt“, und ist in der Lage, die therapeutisch notwendigen Grifftechniken dem eigenen Schamgefühl und dem des Patienten anzupassen.
Ich persönlich möchte z.B. keine völlig entkleideten Patienten vor mir liegen haben, auch wenn der Patient selbst damit kein Problem hat und mir sagt „ich kann die Unterhose auch ausziehen“. Nein, braucht er nicht, das würde nämlich meine Grenzen überschreiten. Ich kann mir die Unterwäsche auch zurechtziehen und strategisch wichtige Teile zur Seite räumen, ohne diese direkt anzufassen.
Dein Vorschlag mit dem Aushang ist keine gute Idee. Ein solcher Aushang würde gerade bei Patienten mit hoher Schamgrenze erst den Gedanken säen, dass zumindest die theoretische Möglichkeit besteht, während der Therapie könnten unangenehm empfundene „Übergriffe“ stattfinden. Damit wäre diesen Patienten ein Bärendienst erwiesen. Und dein Problem die Schamgrenze des Therapeuten einzuschätzen, wäre mit einem solchen Aushang immer noch nicht gelöst.
Schüler werden im Laufe ihrer Ausbildung täglich mit der eigenen Nacktheit und der Nacktheit der Mitschüler und Patienten konfrontiert. Ob Schüler allerdings diesbezüglich „gebrieft“ werden und „Kommunikationsstrategien mit Patienten“ zum Lehrplan gehören, wage ich zu bezweifeln. Das muss wahrscheinlich leider jeder Schüler mit sich selbst ausmachen. Von angehenden oder „frischen“ Schülern kann man, der fehlenden Erfahrung und des meist jugendlichen Alters wegen, noch kein dem Berufsbild angepasstes Schamgefühl erwarten. Das individuelle Schamgefühl wird zwar schon in Kindertagen geprägt, Therapeuten entwickeln ihr „berufsspezifisches Schamgefühl“ aber auch erst mit der Zeit durch Erfahrung. Deshalb bitte ich auch um Verständnis für einige Schülerbeiträge in diesem Forum zum Thema „nackig Sein“
Meine beiden Ratschläge an dich:
Mache dich vor Reisen in fremde Länder mit den dort vorherrschenden Sitten vertraut (in China solltest du dich z.B. nie ungebeten entkleiden).
Vermeide den wenig erfolgversprechenden Versuch dich wie erwartet/wie erwünscht zu verhalten, sei einfach so unverklemmt wie du bist, und lasse es Aufgabe des Therapeuten sein das Beste daraus machen.
Gruß von susn
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